Interregna im mittelalterlichen Europa (11.-14. Jahrhundert)

Interregna im mittelalterlichen Europa (11.-14. Jahrhundert)

Organisatoren
Norbert Kersken, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg; Stefan Tebruck, Professur für Mittelalterliche Geschichte, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2016 - 26.11.2016
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Von
Monika Gerundt, Mittelalterliche Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Vom 24. bis zum 26. November fand im Herder-Institut in Marburg die Tagung „Interregna im mittelalterlichen Europa (11.–14. Jahrhundert)“ statt, die in Kooperation mit der Professur für Mittelalterliche Geschichte des Historischen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen organisiert worden war. Ziel war es, den Begriff „Interregnum“ durch die Fragen nach Akteuren und Praktiken genauer zu untersuchen, aber auch grundlegend aufzuzeigen, inwieweit Interregna zu einem politischen Strukturwandel und veränderten Wahrnehmungsprozessen beitragen. Dabei sollte auch überprüft werden, ob kirchliche Sedisvakanzen durch ihre kirchenrechtlichen Regelungen Einfluss auf die Bewältigung von Interregna hatten.

Als Quellenbegriff ist Interregnum nur im Wahldekret der Fürsten für Konrad IV. belegt, wie THOMAS ZOTZ (Freiburg) in seinem Eröffnungsvortrag betonte. Die Fürsten sahen die Gefahr, die eine herrscherlose Zeit für das Reich mit sich brachte. Vorsorgemaßnahmen gegen ein interstitium temporis zeigen sich auch in der Goldenen Bulle von 1356. Anhand von drei Beispielen (das Aussterben des süddeutschen Zweiges der Welfen durch den Tod Welfs VII. 1167, die Situation in der Grafschaft Hennegau während der Abwesenheit des Grafen Balduin VI. aufgrund seiner Aktivitäten im Lateinischen Kaiserreich, sowie das Ende der Zähringerherrschaft durch den Tod Herzogs Bertolds V.) zeigte Thomas Zotz die Vielfalt der Interregna im mittelalterlichen Europa und die Bedeutung des Hofes und des Adels, die sich auch in der Entwicklung der Hof- und Erzämter zeigt. Es stellte sich die Frage, ob jeder prekäre Dynastiewechsel ein Interregnum bedeutet.

Die Sektion I „Interregna im Reich“ eröffnete INGRID WÜRTH (Halle) mit ihrem Vortrag über das Königtum Wilhelms von Holland (1247–1256), das in der Zeit lag, die in der Forschung als das Interregnum im Reich bezeichnet wird. Nach einer Analyse des Regierungshandelns Wilhelms und des diplomatischen Ausbaus seines Einflussbereichs anhand der von ihm ausgestellten Urkunden stellte sich die Frage, ob sich nicht auch die Forschung einseitig durch die schon zur Zeit Rudolfs von Habsburg einsetzende Darstellung Wilhelms in der Geschichtsschreibung beeinflussen ließ. In der Diskussion wurde im Anschluss an den Vorabend gefragt, inwieweit Krisenzeiten bei Herrscherwechseln, Thronstreitkonstellationen und Doppelkönigtum die Voraussetzungen für ein Interregnum erfüllen.

Die große Rolle des Adels betonte ROMAN ZEHETMAYER (Wien/St. Pölten), da Přemysl Ottokar seine Herrschaft in Österreich und später auch in der Steiermark nach dem Tod des letzten Babenbergers Friedrichs des Streitbaren im Jahr 1246 erst durch die Unterstützung der österreichischen Adeligen durchsetzen konnte. Ottokars Maßnahmen, die Rechte des Adels Stück für Stück wieder zu beschneiden, führten zu einer zunehmenden Opposition und Aufständen des Adels und schließlich zu einem Verlust seiner Herrschaft. In Österreich lasse sich in der Zeit von 1246 bis 1251 die Herausbildung einer Gruppe Adeliger feststellen, die sich als Repräsentanten des Landes sahen und Landherren genannt wurden.

NORBERT KERSKEN (Marburg) zeigte am Beispiel von Pommerellen, wie die Durchsetzung von Interessen nach dem Aussterben derSamboriden/Sobiesławiden durch nachbarliche Dynastien angestrebt wurde. Neben Heiratsverbindungen, Kirchenpolitik und Aushandlung von Verträgen wurden hier militärische Auseinandersetzungen zur Erlangung von Herrschaftsansprüchen eingesetzt. Mit dem Deutschen Orden fand sich hier ein Akteur, der keine personellen Interessen zur Durchsetzung einer dynastischen Nachfolge vertrat.

In der Sektion II verdeutlichte RITA COSTA GOMES (Maryland, USA), wie in der Historiographie ein Interregnum retrospektiv konstruiert werden konnte, wenn zwar ein König eingesetzt, dieser aber unerwünscht war. Der Chronist Fernando Lopes schilderte die Verhältnisse in Portugal nach dem Tod Fernandos I. 1383 und schuf so ein anti-kastilisches Bild, um das portugiesische Selbstverständnis zu stärken. Seine Darstellung wurde gerade durch die Drucklegung im 19. Jahrhundert vielfach rezipiert und erreichte in der historischen Einschätzung eine grundlegende Bedeutung, so die Referentin.

Zwei weitere Beispiele brachten MARTIN WIHODA (Brno) mit Böhmen nach der Ermordung Wenzels III. im Jahr 1306 und ANDRZEJ MARZECK (Kraków) mit Polen in den Jahren 1370–1385. In beiden Fällen stellte sich die Frage, ob es sich um ein echtes Interregnum oder um ein von den Zeitgenossen so empfundenes oder konstruiertes handelte. Im Fall Böhmens handelte es sich zwar um einen Dynastiewechsel, aber es kam zu keinem Strukturwandel. Die Rolle des Adels bei der Königswahl festigte sich jedoch. Heinrich von Kärnten konnte sich als legitimer gewählter König nicht durchsetzen. Daher wurden die Jahre nach seiner Wahl erst im Nachhinein als Interregnum bezeichnet, um die Ansprüche der Luxemburger zu rechtfertigen. In Polen handelte es sich in den Jahren 1370–1385 ebenfalls um kein Interregnum im engeren Sinn, da mit Ludwig von Anjou ein rechtmäßiger König gekrönt war. Dieser hielt sich jedoch nicht im Land auf, sondern ließ sich durch seine Mutter Elisabeth vertreten. Die Einordnung einer Zeit als Interregnum scheint daher nicht von der Existenz eines Herrschers abhängig zu sein, sondern von der Ausübung der Herrschaft, auch wenn der Begriff von der Forschung nicht für diese Jahre in Polen verwendet wird, so das Ergebnis der Sektion.

Im Fall Ungarns in den Jahren 1301–1308, den JULIA BURKHARDT (Heidelberg) vorstellte, wurde ein Interregnum dagegen verschwiegen. Nach dem Ende der Arpadenherrschaft beanspruchten verschiedene Mächte die Krone, Karl Robert von Anjou setzte sich schließlich 1308 in den Auseinandersetzungen durch, in die auch Adel und Papsttum verwickelt waren. Seine Wahl wurde durch den Adel approbiert. Wichtig wurde die Krönung am richtigen Ort, mit den richtigen Insignien, vom rechtmäßigen Koronator. Die Angevinen betonten in den folgenden Jahren die Kontinuität in der Herrschaftsausübung zwischen ihnen und den Arpaden, um ihren Herrschaftsanspruch zu festigen.

PAUL SRODECKI (Kiel) verglich die Argumentationen zur Herrschaftslegitimierung, die im polnischen Interregnum von 1444–1446 verwendet wurden, mit denen in den ungarischen Interregna von 1440 und 1444. In beiden Fällen wurde die Rolle als „Bollwerk der Christenheit“ betont. Sowohl der polnische wie auch der ungarische Adel eignete sich diese Rhetorik an und konnte damit seine Rolle stärken, erläuterte Srodecki. So entstehende ideologische Modelle lösten sich von Dynastien und verbanden sich mit überpersonalen Vorstellungen vom Staat.

In der Sektion III erweiterten zwei Beispiele aus dem kirchlichen Bereich das Tagungsthema um den Aspekt der Sedisvakanzen. ANDREAS FISCHER (Wien) referierte über die Vakanzen des Apostolischen Stuhls im 13. und 14. Jahrhundert. In den insgesamt 13 Jahre andauernden Vakanzen des Papststuhls zwischen 1241 und 1305 handelten drei Akteursgruppen: die Kardinäle, die für die Wahl verantwortlich waren, die kommunale Autorität, in der römische Adelsfamilien konkurrierten, und die Herrscher, die ebenfalls Druck ausübten, um den Ausgang der Wahl zu beeinflussen. Da auch der Kirchenstaat einen Herrscher zum Zusammenhalt benötigte, wurden Strukturen geschaffen, um durch klare Begrifflichkeiten und die Einrichtung von Regeln das Wahlverfahren konsequent durchzusetzen. Das Kardinalskollegium erhielt das alleinige Wahlrecht, weiteren Ämter der Kurie wurde Macht übertragen, um eine ordnungsgemäße Verwaltung während der Vakanz sicherzustellen. Da es keine legitimatorischen Brüche wie bei Dynastien gab, konnte die Vorstellung einer Transpersonalität in Bezug auf das Amt leichter entstehen.

STEFAN PETERSEN (Würzburg) zeigte anhand von Stifts- und Klostergründungen während der Bischofsvakanz in Würzburg in den Jahren 1122–1128, wie sich weltliche und kirchliche Politik gegenseitig beeinflussten. Während der Sedisvakanz konnten die Temporalia weiterhin durch das Domkapitel verliehen werden, die Verleihung der Spiritualia gestaltete sich jedoch schwierig, sodass sich die Gründung des Prämonstratenserstifts Oberzell sehr langwierig gestaltete.

In der abschließenden Tagungszusammenfassung durch STEFAN TEBRUCK (Gießen) und der anschließenden Abschlussdiskussion kam deutlich zum Ausdruck, wie vielfältig die politischen Konstellationen sind, die in der Forschung als Interregnum gekennzeichnet werden. Zeiten, die heute als Interregnum bestimmt werden, wurden zeitgenössisch nicht als solche wahrgenommen, andere erst im Nachhinein als herrscherlose Zeit beschrieben oder konstruiert. Im Rückbezug auf das Konzept der Tagung zeigte sich, dass sich für Akteure wie Dynasten oder Adlige in Zeiten des Interregnums neue Handlungsspielräume öffneten und genutzt wurden. Praktiken waren dabei eine Nutzung von politischen Strategien und Rechtsbestimmungen, Heiratsbündnissen und Verträgen, aber auch Lösungen durch Gewalt. Hierbei zeigte sich eine deutliche Unterscheidung zu den Lösungen, die im kirchlichen Bereich bei einer Sedisvakanz entwickelt wurden. Zeiten eines Interregnums bedingten oft einen politischen Strukturwandel. Besonders der Adel konnte in mehreren Beispielen seinen Handlungsbereich erweitern und aufwerten, im Reichsinterregnum von 1250–1273 kam es zu einer Weiterentwicklung des Verfahrens der Königswahl und der Verfestigung des Kurkollegs. Die Wahrnehmung eines Interregnums wurde jedoch jeweils stark von der im Nachhinein verfassten Historiographie geprägt. So stellte sich in der Diskussion die Frage, inwieweit aufgrund der sehr unterschiedlichen Fallbeispiele Interregnum als Analysebegriff verwendbar bleibt. Sicher kann er nicht für jede prekäre Herrschaft angewendet werden. Er kann sich jedoch als durchaus nützlich erweisen für die Interpretation von Situationen, in denen ein strittiger Dynastie- oder Herrscherwechsel zur politischen Krise führte und in denen verschiedene Akteure mit einer Kombination von rechtlicher Argumentation, politischem Handeln und Gewaltanwendung – gelegentlich mit Unterstützung von außen – eine Entscheidung in ihrem Sinn herbeizuführen suchten.

Konferenzübersicht:

Norbert Kersken (Marburg)/Stefan Tebruck (Gießen): Begrüßung und Einführung
Thomas Zotz (Freiburg): Impulsreferat/Opening Paper

Sektion I: Interregna im Reich

Ingrid Würth: Das Interregnum im Reich und das Königtum Wilhelms von Holland (1247–1256)
Roman Zehetmayer (Wien/St. Pölten): Das sogenannte österreichische Interregnum: Von den Babenbergern zu den Habsburgern
Norbert Kersken (Marburg): Pommerellen zwischen Brandenburg, Polen und dem Ordensstaat (1294–1319)

Sektion II: Die Königreiche Polen, Ungarn, Böhmen und Portugal

Rita Costa Gomes (Maryland, USA): The Nationalization of an Interregnum: Fernão Lopes and his chronicles
Martin Wihoda (Brno): Dynastiewechsel in Böhmen: Zwischen den althergebrachten Gewohnheiten und einem neuen Anfang
Andrzej Marzec (Kraków): Unter der Herrschaft des abwesenden Königs. Das Königreich Polen in den Jahren 1370–1385
Julia Burkhardt (Heidelberg): Ungarn zwischen den Arpaden und Anjou (1301–1308)
Paul Srodecki (Kiel): Die adeligen Königsmacher. Die ungarischen und polnischen Interregna 1440 und 1444–1445/1447 im Vergleich

Sektion III: Kirchliche Sedisvakanzen

Andreas Fischer (Wien): Ecclesia acephala, Patrimonium ohne Papst. Die Vakanzen des Apostolischen Stuhls im 13. und 14. Jahrhundert
Stefan Petersen (Würzburg): Der Dynastiewechsel von 1125 als Problem für die Reichskirche: Die Sedisvakanz im Bistum Würzburg (1122–1128)

Stefan Tebruck (Gießen): Zusammenfassung


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